Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Ich
vermisse Dich!
Ein
Jude wendet sich von Gott ab und hält das für eine gute Idee. Doch
dann stellt er fest, dass er niemandem mehr die Schuld geben kann
Von
Shalom Auslander, Zeit Magazin, 31.03.2010
Kürzlich
hat ein grauenhaftes Erdbeben den kleinen Karibikstaat Haiti
erschüttert. Hunderttausende sind gestorben, Millionen wurden
obdachlos, unzählige Weitere wurden verletzt oder sind vermisst.
Familien, die gerade noch beisammensaßen, waren plötzlich nicht
mehr da. Väter und Mütter verschwanden unter ihren Häusern, Söhne
und Töchter wurden unter ihren Schulen zerquetscht. Glück hatte,
wer gleich starb; Pech hatte, wer über einen langen Zeitraum einen
langsamen, qualvollen Tod starb; das größte Pech hatten wohl die
Überlebenden, die nun hungerten und obdachlos waren, die Leichen
stapeln und ihre Toten begraben mussten.
Es
war unbegreiflich.
Es
war unvorstellbar.
Es
war unerklärlich.
Und
da trat hier, in Amerika, noch bevor der Staub sich auf die
geschundenen Unschuldigen hatte niederlassen können, ein Mann namens
Pat im Fernsehen auf und gab die Schuld den Haitianern selbst.
Pat
ist Pfarrer. Er ist auch der Gründer des Christian Broadcasting
Network, eines christlichen Fernsehsenders, und Moderator von dessen
Vorzeige-Talkshow The 700 Club. Warum 700, fragen Sie? Ist das
vielleicht eine mystische Zahl? Bezieht sie sich auf ein besonderes
Datum im Leben Christi? Ist sie ein kryptischer Verweis auf einen
alten Vers von moralischer Bedeutung? Nein. Sie bezieht sich auf die
ersten 700 Menschen, die Pat zur Förderung des Christian
Broadcasting Network zehn Dollar im Monat spendeten. Und so stellte
sich Pat, gleich nachdem die haitianische Tragödie in den
amerikanischen Nachrichtensendern erschienen war, in seiner Talkshow
hin und erklärte, die Haitianer hätten das Erdbeben selbst über
sich gebracht, weil sie einige Jahre davor einen Pakt mit dem Teufel
geschlossen hätten. »Sie versammelten sich und gelobten einen Pakt
mit dem Teufel«, sagte Pat. »Seitdem werden sie mit einer Strafe
nach der anderen belegt.« Sieht man es so, kann man Gott keine
Schuld an dem kaltblütigen Mord an Hunderttausenden von ihnen geben.
Manche
entrüsteten sich über Pat.
Manche
sagten, Pat solle sich schämen.
Manche
sagten, Pat solle sich entschuldigen.
Ein
Mann namens Yehuda jedoch nicht.
Yehuda
ist Rabbiner. Er ist der Sprecher der Rabbinical Alliance of America,
einer Vereinigung von über 800 Rabbinern. Yehuda, der im Namen von
über 800 Rabbinern sprach, hatte eine andere Erklärung für das
Erdbeben in Haiti. Yehudas Erklärung für das schreckliche Erdbeben
in Haiti war: Männer und Frauen, die Liebe zu Angehörigen des
eigenen Geschlechts bekunden. Yehuda, der im Namen von über 800
Rabbinern sprach, sagte, die Homosexuellen lösten Erdbeben aus. Er
sagte auch, die Homosexuellen hätten Katrina verursacht, was
allerdings kein Erdbeben, sondern ein Hurrikan war, daher glaubt
Yehuda entweder a), die Homosexuellen könnten Hurrikane wie auch
Erdbeben auslösen, oder b), Hurrikane würden durch Erdbeben
ausgelöst, die, wie jeder weiß, von den Homosexuellen ausgelöst
werden.
Manche
entrüsteten sich über Yehuda.
Manche
sagten, Yehuda solle sich schämen.
Manche
sagten, Yehuda solle sich entschuldigen.
Ein
Mann namens Jerry jedoch nicht. Zum Teil deswegen, weil Jerry tot
ist, aber wenn er noch am Leben gewesen wäre, hätte er Pat und
Yehuda wahrscheinlich zugestimmt.
Jerry
war ein amerikanischer Baptist, Fernsehprediger und Mitgründer einer
Gruppe namens Moral Majority, die weder moralisch war noch eine
Mehrheit. Nach den Anschlägen vom 11. September trat Jerry in Pats
Talkshow auf und gab die Schuld an den Anschlägen den
Abtreibungsbefürwortern, Heiden, Feministinnen, Schwulen und Lesben.
»Ich zeige mit dem Finger auf sie«, sagte Jerry, »und sage: Ihr
habt dazu beigetragen.« Die restliche Welt gab die Schuld
unerklärlicherweise den neunzehn islamistischen Entführern, die die
Flugzeuge ins World Trade Center gesteuert hatten.
Manche
entrüsteten sich über Jerry.
Manche
sagten, Jerry solle sich schämen.
Doch
Jerry schämte sich nicht.
Auch
Yehuda nicht.
Auch
Pat nicht.
Ich
weiß, was sie haben.
Sie
haben eine Riesenangst. Sie haben eine solche Angst, dass ihnen die
Hände zittern, dass ihnen der Schweiß auf der Stirn steht, dass sie
ins Bett machen. Nicht vor den Homosexuellen, nicht vor dem Teufel,
nicht einmal vor Gott. Diese Angst - eine solche, dass ihnen die
Hände zittern, der Schweiß auf der Stirn steht, sie ins Bett machen
- haben sie vor dem Leben. Vor der Menschheit. Vor dem Tod. Vor dem
Zufall.
Ich
weiß, was sie haben.
Vor
Kurzem, nach fast 35 gemeinsamen Jahren, gingen Gott und ich
getrennte Wege. Es lief einfach nicht gut. Offen gesagt, war Er ein
bisschen ein Kontrollfreak, und ich glaube, Er hat einige
tiefliegende seelische Probleme, die anzugehen er sich hartnäckig
weigert. Er geht gern an die Decke, Er tötet mit hemmungsloser
Hingabe und neigt dazu, immer wieder für längere Zeit zu
verschwinden und sich nicht mal telefonisch abzumelden.
Ich
tat mein Bestes, doch mein Bestes war nicht gut genug. Ihm genügt
von keinem das Beste, glauben Sie mir. Dem orthodoxen Judentum
zufolge, in dem ich aufgezogen wurde, hat Er über 600 Vorschriften,
und die auch nur, damit Er einen nicht umbringt. Meine Rabbiner haben
mich gelehrt, dass es ein unmittelbares Verhältnis von Ursache und
Wirkung zwischen meinen Handlungen und meinem Schicksal gibt: Adam aß
vom Baum der Erkenntnis, also wurde er aus dem Garten Eden geworfen;
die Menschen waren gewalttätig, also flutete Gott die Erde; die
Sodomiter vergewaltigten Fremde, also zerstörte Gott ihre Stadt;
Lots Frau drehte sich zu der untergehenden Stadt um, also machte Gott
sie zur Salzsäule. In der dritten Klasse, als der Vater eines
Klassenkameraden plötzlich an einem Herzinfarkt starb, meinten meine
Rabbiner, er müsse etwas getan haben, womit er das verdiente. Als
meine Schwester an der Schilddrüse erkrankte, sagte man mir, ich
solle um Vergebung beten.
»Vergebung
wofür?«, fragte ich.
»Für
das, was du getan hast«, sagte mein Rabbiner. »Gott bestraft nur
die Bösen.«
Schon
damals überlegte ich, ob das Alte Testament nicht besser »Das Große
Buch des Sonst« hätte heißen sollen. Halte den Sabbat ein, sonst.
Halte Fleisch und Milch getrennt, sonst. Ehre meinen Namen, sonst.
Ich
war fünfunddreißig.
Ich
brauchte eine Veränderung.
Ich
musste frei sein.
Ich
musste neu anfangen.
Fairerweise
gebührt ein Teil des Verdiensts für diese Trennung Bill Gates, dem
Begründer von Microsoft und dem weitverbreiteten
Textverarbeitungsprogramm Microsoft Word. Microsoft Word hat eine
interessante Funktion namens »Suchen/Ersetzen«, womit man jedes
Wort suchen und gleichzeitig durch ein anderes ersetzen kann. Ich
hatte einen schlechten Tag gehabt - morgens verschlafen, dann noch
ein Knöllchen und daher einen Termin beim Psychiater verpasst. Gott
war zornig auf mich und ich auf ihn, und als ich mich dann an jenem
Nachmittag zum Schreiben an den Computer setzte, fragte ich mich: Was
wäre, wenn ich wahllos Passagen aus der Bibel nähme, in ein
Word-Dokument tippte und ein einfaches Suchen/Ersetzen machte? Was
wäre, wenn ich »Gott« oder »Herr« oder »Gott unser Herr« oder
»Herr unser Gott« durch, sagen wir, Frank ersetzte?
Da
reute es Frank, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es
bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: »Ich will die
Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde...« (1.
Mose 6,6-7)
So
sagt Frank: Ich will zu Mitternacht ausgehen in Ägyptenland; und
alle Erstgeburt in Ägyptenland soll sterben... (2. Mose 11,4-5)
Frank
hat gewisse Probleme.
Und
ihre Auen, die so wohl standen, verderbt sind vor dem grimmigen Zorn
Franks. Er hat seine Hütte verlassen wie ein junger Löwe, und ist
also ihr Land zerstört vor dem Zorn des Tyrannen und vor Franks
grimmigem Zorn. (Jeremia 25,37f.)
Frank
muss mit jemandem sprechen.
Frank
aber sprach zu Mose: Der Mann soll des Todes sterben; die ganze
Gemeinde soll ihn steinigen draußen vor dem Lager. Da führte die
ganze Gemeinde ihn hinaus vor das Lager und steinigte ihn, dass er
starb, wie Frank dem Mose geboten hatte. (4. Mose 15,35f.)
Ganz
klar, Frank ist eine ziemliche Arschgeige.
Denn
ich, Frank, dein Frank, bin ein eifriger Frank, der da heimsucht der
Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied,
die mich hassen. (2. Mose 20,5)
Transkribieren
Sie nun das ganze Alte Testament. Ersetzen Sie »Gott« durch
»Frank«, drucken Sie es aus und zeigen Sie das Buch Frank einem
Fünfjährigen. Bitten Sie ihn, er soll den Bösen heraussuchen.
Es
sind nicht die Israeliten.
Es
ist Frank.
Die
ganze Beziehung machte mich irgendwie nervös. Noch nachdem ich den
Versuch aufgegeben hatte, Ihn zu besänftigen, lebte ich in Furcht
vor Seinem Zorn. Jedes Missgeschick - jeder platte Reifen, jede
Grippe, jede Steuererhöhung - war Sein Werk. Es gab keine Zufälle,
keine simplen Missgeschicke, keine schlechten Tage. Es gab immer nur
Bestrafung, Rache, Vergeltung.
Also
verließ ich Ihn.
Ich
ging.
Und
ich sagte mir, jetzt wird alles gut.
Dr.
Green, der Kinderarzt meines Sohnes, hat zwei bedauerliche
Eigenheiten, die lustig wären, wenn mein Sohn zu der Zeit, als sie
mir zum ersten Mal auffielen, nicht dem Tod nahe gewesen wäre. Seine
erste Eigenheit ist, das absolute Worst-Case-Szenario bis ins letzte,
schauerliche Detail darzulegen - ohne dabei zu erklären, dass das,
was er beschreibt, eben das absolute Worst-Case-Szenario ist.
Mein
Sohn lag wenige Wochen nach seinem fünften Geburtstag in der
Notaufnahme des Benediktinerkrankenhauses in Kingston, New York, auf
einer Trage, auf dem Gesicht eine Sauerstoffmaske, im Arm eine
Kanüle. Eine Röntgenaufnahme seiner Brust zeigte, dass der gesamte
linke Lungenflügel blockiert war und der rechte nur halb frei. Die
Sauerstoffsättigung seines Bluts lag gerade etwas über 50 Prozent.
Ein Apparat hinter ihm piepste bestürzend. Ich hielt ihn fest,
während die Schwestern versuchten, ihm aus dem rechten Arm Blut
abzunehmen. Er schrie und bettelte, nach Hause zu dürfen.
»Natürlich«,
sagte Dr. Green, »wirken nicht alle Antibiotika bei allen Patienten.
Manchmal machen sie die Sache noch schlimmer.«
»Schlimmer?«,
fragte ich.
»Selbst
wenn sie wirken«, sagte Dr. Green, »kann sich Flüssigkeit im
Brustkorb sammeln, wenn die Schwellung zurückgeht.«
»Schwellung?«
»Der
Lungen. Natürlich kann das zu weiteren Infektionen führen, die
schlimmer sind als die ursprüngliche. Wenn das Atmungssystem
schlappmacht, haben wir ein echtes Problem. Und wenn seine
Sauerstoffsättigung zu niedrig wird, kann das aufs Gehirn gehen.«
Ich
richtete mich auf und wandte mich zu ihm. Das Zimmer kreiste um mich.
»Was
sagen Sie mir da?«, fragte ich. »Was erzählen Sie mir da, erzählen
Sie mir, dass mein Sohn einen Hirnschaden haben wird? Was sagen Sie
da, verdammt?«
»Nein,
nein«, sagte Dr. Green. »Das ist das Worst-Case-Szenario. »Den
meisten Kindern mit einer Lungenentzündung geht es nach einigen
Tagen besser.«
»Lungenentzündung?«,
fragte ich. »Wie sind Sie denn von Lungenentzündung auf Hirnschaden
gekommen?«
Dr.
Greens zweite bedauerliche Eigenheit, die lustig wäre, wenn mein
Sohn zu dem Zeitpunkt, als sie mir zum ersten Mal auffiel, nicht dem
Tod nahe gewesen wäre, ist sein zweitklassiger jüdischer Humor, der
immer im denkbar schlechtesten Moment kommt.
»Besser
als Jungenentzündung«, sagte Dr. Green.
»Jungenentzündung?«
»Jungenentzündung,
Lungenentzündung«, sagte Dr. Green, »let's call the whole thing
off.«
»Was?«
»Louis
Armstrong. Sie wissen schon: »Tomato, to-mah-toe, let's call the
whole thing off.«
«Verdammt,
was reden Sie denn da?«
»Wir
sollten ihn auf die Kinderstation bringen«, sagte Dr. Green.
Die
Kinderstation war im Albany Medical Center, anderthalb Autostunden
entfernt. Die Sanitäter steckten meinen Sohn in einen Rettungswagen,
meine Frau stieg ein und setzte sich neben ihn, ich folgte in meinem
Wagen. Unterwegs rief ich meinen Freund Jason an, um zu hören, ob er
sich um meine Hunde kümmern könnte, solange wir weg waren.
»Kein
Problem«, sagte Jason.
»Danke«,
sagte ich. »Wie geht's Lisa?«
»Nicht
so besonders«, sagte er.
Lisa,
Jasons Frau, hatte Krebs im Endstadium. Die Ärzte hatten ihr noch
ein halbes Jahr gegeben. Das war ein Vierteljahr her. Jetzt hatte sie
Flüssigkeit im Magen. Warum, wussten sie nicht.
»Herrgott«,
sagte ich.
»Herrgott«,
sagte Jason.
»Ein
beschissenes Leben, Mann.«
»Alles
beschissen«, sagte Jason.
Mein
Sohn wurde in ein Isolierzimmer gefahren; man hatte die Sorge, dass
seine Lungenentzündung noch durch eine Schweinegrippe verschärft
war. Um drei Uhr morgens hatten sie ihn endlich stabilisiert. Meine
Frau hustete nun ebenfalls, also schickte man sie nach unten in die
Notaufnahme, wo sie sich auf Schweinegrippe testen lassen sollte.
Jeder, den ich liebte, war krank. Ihre Lungen füllten sich mit
Flüssigkeit. Ihre Mägen füllten sich mit Flüssigkeit. Keiner
wusste, warum.
Ich
ging hinaus, setzte mich auf die Stufen des Albany Medical Center,
steckte mir eine Zigarette an und versuchte verzweifelt, Gott die
Schuld zu geben.
Vor
einigen Jahren, als meine Beziehung zu Gott gerade anfing zu
bröckeln, versuchte meine Mutter, uns zu helfen, mit uns
klarzukommen. Sie wusste, dass ich inzwischen gegen Gottes Willen
Cheeseburger aß, sie wusste, dass ich am Sabbat, den Gott zum Tag
kriegerisch aufgezwungener Ruhe erklärt hatte, Auto fuhr. Sie wollte
unbedingt, dass meine Beziehung zu Gott gut war, und so nahm meine
liebevolle Mutter mich beiseite, legte liebevoll den Arm um mich, sah
mir liebevoll in die Augen und sagte: »Du führst zu Ende, was
Hitler begonnen hat.«
Vielleicht
bedarf die Mathematik dieser Gleichung einer Erklärung:
A:
Hitler hat versucht, die Juden zu töten.
Und:
B:
Die Juden gehorchen Gottes Vorschriften.
Und:
C:
Ich beachtete Gottes Vorschriften nicht.
Daher:
D:
Ich tötete einen Juden (mich) und womöglich noch andere Juden
(meine noch kommenden Kinder und Enkel).
Somit:
E:
Ich führte zu Ende, was Hitler begonnen hatte.
Ich
glaube, man kann einigermaßen sicher sagen, dass Mom die
Auszeichnung »Mutter des Jahres« in nächster Zeit nicht erhalten
wird, doch um die Sache noch schlimmer zu machen: Sie log. Sie
glaubte an Gott, und sie wusste, was meine Rabbiner wussten: Hitler
hat niemanden getötet.
Sondern
Gott.
Hitler
war, wie meine Rabbiner sagten, eine Strafe der Juden in Deutschland,
die sich assimiliert hatten.
Die
Inquisition war, wie meine Rabbiner sagten, eine Strafe der
spanischen Juden, die zum Christentum konvertiert waren.
Überschwemmungen,
Hungersnöte, Völkermord, Dürre, Krieg, Krankheit. Für all das
gibt es einen Grund.
Gott.
Frank.
Nur
jetzt, nach 35 Jahren, plötzlich nicht mehr.
Ich
dachte, wenn ich erst mit meinem ausfälligen Gott gebrochen hätte,
würde alles einfacher. Ich dachte, ich müsste nicht in Angst leben,
ich dachte, ich müsste mir nicht so viele Sorgen machen. Das war
falsch. Was sagt einer, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, zu
glauben, dass alles Schlechte, das auf der Welt geschieht, das
Ergebnis eines böswilligen Gottes ist, wenn er morgens aufwacht und
aus dem Fenster schaut und die Welt noch immer so beschissen ist, wie
sie es immer war?
Er
sagt: »Scheiße.«
Das
jedenfalls habe ich gesagt.
Ich
saß auf den Stufen des Albany Medical Center und versuchte, Gott die
Schuld zu geben, vermisste Ihn, wünschte, ich könnte Ihm die Schuld
geben, wünschte, es gäbe einen Grund für das alles und eine
Lösung, für die Lungen meines Sohnes und den Krebs der Frau meines
Freundes, und als ich keinen fand, sagte ich: »Scheiße.«
Ich
vermisste Gott.
Ich
vermisste es, eine Antwort zu haben.
Es
ist eine Sache, in einem Universum zu leben, das von einem brutalen
Diktator kontrolliert wird, dessen Wille manipuliert, dessen Zorn
gezügelt werden, gegen dessen Urteile Berufung eingelegt werden
kann. Aber ohne den Diktator, was bleibt einem da noch? Es bleibt
einem eine beschissene Welt, in der alles ohne guten Grund geschieht,
in der sechs Millionen Menschen in Todeslagern umgebracht werden und
dreitausend Menschen im World Trade Center sterben und zweitausend in
einem Hurrikan in New Orleans und eine Viertelmillion in einem
Hurrikan in Haiti. So halt. Man kann nur dem Universum die Schuld
geben, man hat nur Menschen zu fürchten, die aus einem freien und
oftmals grausamen Willen handeln. Hitler hat nicht getötet, weil
sich die Juden assimilierten. Hitler tötete, weil Hitler ein Mörder
war. Das Erdbeben in Haiti hatte als Ursache keinen Pakt mit dem
Teufel; seine Ursache war die Verschiebung der Karibischen Platte.
Die Karibische Platte verschob sich nicht wegen der Homosexualität,
sondern wegen eines Bruchs in der
Enriquillo-Plantain-Garden-Verwerfung.
Was
mich wieder zu dem Pfarrer namens Pat und dem Rabbiner namens Yehuda
und dem Prediger namens Jerry führt und der Furcht, die sie und ich
teilen. Es ist die Furcht vor einer Welt, die wir nicht beherrschen
können. Es ist die Furcht vor einer brutalen Welt. Es ist die Furcht
vor einer Welt, in der alles passieren kann und wahrscheinlich auch
wird. Es ist schwer, auf diesem Planeten gut zu schlafen.
Nachdem
der Pastor namens Jerry 2007 gestorben war, nannte Christopher
Hitchens ihn einen Schwindler. Er nannte ihn auch noch andere Dinge,
aber ich glaube, mit dem Schwindler hatte er unrecht. Ich glaube
nicht, dass Jerry ein Schwindler war. Ich glaube nicht, dass Yehuda
ein Schwindler ist, ebenso wenig Pat. Ich glaube, sie haben Angst.
Und ich glaube, sie sind feige.
Es
ist schwer, auf diesem Planeten gut zu schlafen.
Der
Deal, den wir machen, ist hart. Werden Sie damit fertig. Wenn Sie
beten wollen, beten Sie. Wenn Sie sich betrinken wollen, betrinken
Sie sich. Ich mag Marihuana. Aber nur Feiglinge schauen auf die Welt
in all ihrer Unschönheit und versuchen, ihre Ängste zu vertreiben,
indem sie mit dem Finger auf andere zeigen. Pat ist ein Feigling,
weil er die Schuld den Haitianern gibt. Yehuda ist ein Feigling, weil
er die Schuld den Homosexuellen gibt. Jerry war ein Feigling, weil er
so ziemlich jedem die Schuld gab. Manche geben die Schuld den Juden.
Manche geben die Schuld den Schwarzen. Ich habe Gott die Schuld
gegeben. Und jetzt kann ich nur noch zugeben, dass wir in einem
grausamen Universum leben und dass die Einzigen, denen wir die Schuld
an den meisten der schlimmsten Dingen geben können, die passieren,
wir selbst sind. Oder niemand.
Ich
vermisse Gott.
Ich
vermisse die Drohungen, die Strafen. Ich vermisse das Flehen und das
Beten und die Kontrolle des Unkontrollierbaren. Ich vermisse es, eine
Ursache für die Abscheulichkeit des Lebens zu haben.
Ich
vermisse die Klagemauer.
Ich
vermisse es, in die Ritzen zwischen ihren alten Steinen Gebete zu
stopfen und sicher zu sein, dass sie erhört werden. Ich vermisse es,
einen Ort zu haben, zu dem ich mit einem Stift und einem Fetzen
Papier gehen und um den Weltfrieden bitten kann, um eine sichere
Geburt oder einen neuen Job oder die Heilung des Krebses einer
Freundin oder dass Gott in Seiner Gnade herunterlangt und die Lunge
meines Sohnes von Flüssigkeit befreit, wenn ich nur verspreche, nie,
nie mehr das zu tun, was er bei mir nicht mehr sehen will.
Ich
vermisse Frank.
Frank
tat gut. Meine Tage waren angespannt, aber ich schlief besser.
Und
als ich da auf den Stufen des Albany Medical Center saß und
versuchte, Gott die Schuld zu geben, aber merkte, dass ich über Ihn
hinweg war, merkte, dass es mir nicht mehr möglich war, Ihn erneut
heraufzubeschwören, war mein erster Gedanke nach einer derart langen
und schmerzhaften Trennung: »Endlich bin ich frei.«
Mein
zweiter Gedanke war: »Scheiße.«
***
Übersetzung aus
dem Englischen von Eike Schönfeld
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